Beat it!
Geschlagen werden? Das war doch normal! Ich erinnere mich nicht, wann und wo ich die erste Ohrfeige kassierte (ich wünsche, ich würde es können), oder ob mir der Po versohlt wurde, und wegen was. Diese Begegnung mit der unangenehmen Art liegt im Dunkeln, ich den¬ke, mein Gerechtigkeitssinn, damals, rebellierte auch nicht dagegen, ich hatte es nicht anders gelernt, konnte nicht andere Formen der Zurechtweisung, Belehrung o.a. ersehnen oder für richtig, wahr und gut halten.
Wahrscheinlich gab schon in früher Kindheit erste Klappse, auf den Hinterkopf dann später ("erhöhen die Denkfähigkeit", war so ein Spruch, der die Kopfnüsse begleitete). Und die unbewusste oder zu Tage tretende Reaktion war Liebesbedürfnis. Jetzt erst recht von der Mutter irgendsoetwas wie Zärtlichkeit oder Belohnung erbetteln.
Der Vater war sanftmütig. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, mich zu schlagen, seinen ganzen Stolz. Dazu war er wahrscheinlich zu gedemütigt, dieser Enthusiasmus in der Nazi-Zeit, die Herrschaft des Opulenten, des Scheins, des Größenwahns. Hießen die Autos in jener Epoche nicht "Horch"? Horch, was kommt von draußen rein? Vielleicht plagte ihn ein Gewissen, die Scham, dabei gewesen zu sein, reingefallen, reingelegt, mit offenen Augen in geschlossener Gesellschaft. Partikulare Wahrnehmung, Wunschvorstellungen, die Fantasie an der Macht. Und dann der Zusammenbruch. Wie könnte er da den, in dem er irgendwie eine bessere Zukunft erblickte, hart, zu hart, anfassen. Ob er mich mal an den Ohren gezogen hat, wegen einer Lausbüberei? Müßig, zu fragen. Ich denke, nein. Er war nicht der Typ, der schlägt. Die Mutter ? In ihr brodelte es. Was hatte sie nicht alles verloren, da hieß es zäh sein, notfalls nehmen, wenn nicht stehlen, mit un¬tertäniger Gewalt, und dann die Pein und Peinlichkeit des Aufwachens nach dem Ausrasten.
Dass Jähzorn eine Spirale vorantreibt, eine Kettenreaktion in Gang setzen kann, war ihr nicht ganz klar. Sie wollte oben bleiben, dazu war sie zu intelligent, zu begabt, musisch wie mein Vater, dem schönen Leben zugeneigt, darauf bedacht, Gutes zu tun, den Ärmlichen zu helfen, schließlich kam man aus dem Großbürgertum, da ist so etwas eine Tugend, die sein muss.
Die Großmutter, ihre Großmutter, resolut. Vermutlich auch nicht gerade zimperlich, im Austeilen. Aber dann wieder gutmütig, gro߬zügig, nachsichtig. Schwankungen wohin man sieht. Woher sollte denn auch anderes kommen, wenn man keine Lehre, keine Philosophie, keine Religion hatte, die hielt, was sie versprach. So tun, als ob. Nicht auffallen, und doch herausragen aus der Masse, lauter Widersprüche. Das hält man nicht immer, oder nicht lange, aus. Da rutscht einem schon mal die Hand aus. Wenn man sich über etwas ärgert, da muss sich ein Mensch doch abreagieren. Wohin sonst mit der negativen Energie? Sie umzuwandeln, sich zu überwinden im großen Kampf gegen sich selbst, wer hat denn das gelernt. Wo auch. Es ging in diesem Land immer nur um's Herrschen, oder Beherrscht werden. Sich fügen oder fügsam machen.
Also bekam ich was ab, der fürsorgliche Vater, dem ich nicht sanft genug mit Samthandschuhen angefasst werden konnte. Die Mutter, die sich über Verlorenes ärgerte, etwas sein wollte, was sie nicht mehr konnte, setzte auf Hiebe. Denn wo gehobelt werden muss, da müssen Späne fallen. Der Ernst des Lebens gegen die Macht der Liebe. Aber natürlich liebte sie mich, liebte er mich. Es war vielleicht nur die Gewohnheit, die Tradition. Hat noch niemandem geschadet, so eine Backpfeife. Wer nicht hören will, muss fühlen. Aus Schaden wird man klug. Jaja.
Und ich, der ich's gewohnt war, so behandelt zu werden (hart, aber gerecht), machte es ihr nach. Kloppte mich mit Schulkameraden, die drei Köpfe größer waren als ich. Und siegte immer, mit dem Mut dessen, der ahnte, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Also hau weg den, der dir im Weg steht. Manchmal auch nur aus purer Lust an der Rauferei. Übung macht den Meister. Dir werd ich's zeigen, Mores lehren, ja, die Sitten sind rau, wie im Wilden Westen, einer wird gewinnen, und das ist nicht der Schwächling, sondern Max Schmeling oder so. Ein germanischer Hüne, ein Held, jemand, der mit der Stuka heult, der Torpedos abschießt und im Wüstensand, zäh wie Leder, auch dann nicht aufgibt, wenn die Panzer glühen.
Überhaupt, die Panzer. Die, die wir uns antrainierten. Die aus uns wuchsen wie wilde Wucherblumen. Panzer aus Hornhaut, die wir züchteten nach den Züchtigungen, um unsere Ohnmacht nicht einge¬stehen zu müssen. Weder vor uns, noch vor den Schulkameraden. Aber es gab auch welche, die damit prahlten, verdroschen worden zu sein. Echte Kerle, die für ihre Streiche einstehen, die für ihre Heldentaten belohnt wurden mit furchtbarem Gezänk, Gebrüll und Faustschlägen. Oder auf die eingeprügelt wurde, mit dem Spazierstock, mit dem Teppichklopfer, das gab Striemen, das tat ent-setzlich weh, davon erholte man sich lange nicht. Oder nie. Und dann die Lehrer, die einen hießen, die blanke Hand ausgestreckt die Innenseite, hinzuhalten, damit sie mit dem langen Lineal, zack, zack, Hiebe verteilen konnten.
Gehörte das zum Spiel dazu? Jugend, kaum flügge, schon verwahrlost. Was für ein Leben, Angst um Angst, und dazwischen Weihnachten mit Glüöckchengebimmel und Bescherung und Ruhe verheißenden Wachskerzen, oder Kindergeburtstag mit Schokoladekuchen und Ge¬schenken, oder das erste Mal mit der Mutter im Kino, der große Regen, oder Ausflüge mit dem Bötchen auf dem Main, und dann der Rock'n'Roll aus dem Amerikanischen Soldatensender, Magic Moments mit Perry Como und Twinkling, twinkling, litte star....so dass ich die schrecklichen Schlagzeiten fast ganz vergessen habe, ver¬drängt habe, bei mir bist du schön, Mutter, irgendwie war ich doch an all dem Schuld, warum sonst setzte es Prügel. Und so fraß sich ein Schuldbewusstsein, von dem auch der Kinderglaube im Kinder¬gottesdienst nicht befreite, in mein Gewissen, ätzte sich ein in mein Wahrnehmungsvermögen, prägte mein Verhalten, nein, nicht die anderen, nicht sie war es, die Fehler beging, die sich ver-ging, ich war es, der leiden musste, denn Leiden ist segensreich, und macht krank, weil du tief im Inneren spürst, dass sie Unrecht hatte und tat, und du, bei allen Vergehen, doch, verhältnismäßig, unschuldig warst; zumindest wolltest du es sein. Aber du wolltest all das begraben und vergessen, wolltest es hinter dir lassen, denn alle Tränen deines Lebens fließen in ein Kellerloch, deine Keile kriegste doch.
Also taten wir, was verboten war, was uns Lust versprach, die Ersatz war für die Liebe, die wir erflehten, die Verzeihung, die wir such¬ten, die Anerkennung, die wir uns erwünschten, um nur etwas zu sein im Vergleich zu der geschundenen Kreatur, die drangsaliert werden durfte, weil der Stärkere recht hat, der Ältere, der da oben, mit dem wir uns nicht messen durften, quot licet iovi, non licet ovi, was den Göttern erlaubt ist, ist nicht dem Ochsen erlaubt, die müssen Disteln fressen, die haben zu kuschen. Und selbstverständ¬lich wollten wir nicht für immer und ewig unten bleiben, wenn das da oben lockt und verlockt. Also wagten wir den Aufstand, also redeten wir uns heiß, beschuldigten maßlos, vielleicht auch nur deswegen, um eine Reaktion zu erfahren, eine Liebesbeweis in Form eines wahren Wortes, einer Hand, die dir über das Haar streicht... .
Naja, natürlich gab es sie, diese Gesten der Aufmerksamkeit, die Streicheleinheiten, nach denen wir dürsteten, das Lächeln, die unverhofften großen Geschenke, die Güte, die Zeichen der Zuneigung. Und sie wollte ich mir bewahren. Aber was sich in mein Unterbewusstsein gefräst hat, was für Canyons diese Schläge getrieben haben, wie sich der Schmerz, aus Wut geboren, in mir fortsetzte wie ein unterirdisches Wurzelwerk, das noch wächst, selbst wenn der Baum längst gefällt, das ist nicht so einfach auszugraben, geschweige denn auszuradieren.
Und zwar deswegen, weil ich erfahren, erlebt habe, dass es auch anders geht. Ohne dieses Schlagen. Weil Liebe rein sein kann, ohne Verhätschelung, Eigenlob oder Heuchelei. Weil mir gelehrt wurde, dass der Heilige Prophet niemals ein Kind, eine Frau oder einen Bediensteten schlug. Weil die Hand zu zügeln Bestandteil des Islam ist. Weil Gewalttat sich nur gegen den richtet, der sie verübt, wie der Koran sagt. Wäre ich nicht durch glückselige Umstände in den Genuss solcher Theorie und Praxis gekommen, hätte ich vermutlich bis zum Extrem dem nachgeeifert, was sich mir eingefleischt hatte. Und schön, ich weise denen, die mich schlugen, keine Schuld zu. Ich sage mir, sie kannten es nicht besser, es ist gut, im Zwei¬felsfalle für den Angeklagten einzutreten. Aber es ist sinnvoll und notwendig, immer wieder darauf zu verweisen, wie wichtig es ist, Augenmaß zu wahren, die Würde des Kindes zu wahren, ohne in Affenliebe zu verfallen. Naja, die Moral von der Geschicht ist, dass man Fortschritte machen kann. Denn die Zeiten ändern sich, und wir uns mit ihnen. Zwar nicht immer, aber hoffentlich doch immer wieder. Oder, um es mit den Worten meiner Mutter zu sagen, die lateinische Sprichwörter liebte: Nosce te ipsum, erkenne dich selbst, und: Mensch, werde wesentlich.